Nachts allein im Wald


Es ist vier Uhr morgens, stockfinster und arschkalt – ich stolpere mit einer Lampe an der Stirn durch den Wald. Heute möchte ich mir einen Wunsch erfüllen, den ich schon seit langem hege; den Sonnenaufgang von den Stoanernen Mandlen aus erleben. Die Stoanerne Mandlen, oder Hoher Reisch wie der Berg eigentlich heißt, ist eine 2000 m hohe Bergkuppe in Mölten. Von hier aus hat man einen großartigen Rundumblick und er ist relativ leicht erreichbar. Die besten Voraussetzungn einen schönen Sonnenaufgang zu erleben.

Davor muss ich aber erst mal rauf auf den Berg und das ist in der Dunkelheit schwieriger als ich mir das vorgestellt habe. Im schwachen Lichtkegel der Stirnlampe tapse ich ungeschickt durchs Gelände. Von meiner gewohnten Trittsicherheit scheint nichts mehr übrig zu sein.

In dieser Gegend wurden in letzter Zeit öfter Wolfspuren entdeckt, Schafe und Ziegen wurden gerissen. Auch dort, wohin unterwegs ich gerade bin. Es handelt sich um einzelne Tiere, die durch die Wälder streifen. Ich weiß, dass die Angst vor dem Wolf irrational ist. Einen Menschen würden Wölfe nur im Rudel angreifen und auch dann nur im Winter, wenn sie vom Hunger getrieben sind. Und doch ist der Gedanke von einem Raubtier beobachtet zu werden, während man nachts allein durch die Wälder wandert nicht gerade beruhigend. 
Diesen Gedanken hänge ich nach, als ich neben mir ein Geräusch vernehme, ein Rascheln. Ich richte den Strahl meiner Stirnlampe in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Aus dem Dunkel starrt mich ein feurig leuchtendes Augenpaar an, daneben werden zwei weitere rote Punkte sichtbar. Für einige Sekunden scheint die Zeit stillzustehen. Ich umklammere meinen Wanderstock fester, bereit damit auf die Tiere loszuschlagen sollten sie sich mir nähern. Gleichzeitig frage ich mich, ob sich ein Wolf von den Schlägen eines klapprigen Wanderstockes beeindrucken lassen würde. Sehr langsam und mit angehaltenem Atem nähere ich mich den Tieren, die Umrisse eines riesigen Schädels werden sichtbar. Umrisse, die ich zu meiner Erleichterung als Kuhschädel erkenne.

Erleichtert und über mich selbst lachend ziehe ich weiter. Es braucht hier draußen nicht viel und schon geht die Fantasie mit mir durch.

Ich kenne diesen Weg sehr gut. Gehe ihn mehrmals im Jahr zu jeder Jahreszeit, auch bei Regen oder Schnee. Noch vor kurzem hätte ich gesagt, ich kenne diesen Weg wie im Schlaf. Doch nun nachts, wenn die gewohnten Orientierungspunkte fehlen, muss ich feststellen - so gut kenne ich den Weg gar nicht. An jeder Weggabelung muss ich überlegen, welchen Weg ich einschlagen muss. Auf dem letzten Stück ist keine Wegmarkierung mehr sichtbar. Ich vertraue darauf, dass die Richtung stimmt solange es bergauf geht. 




Nach eineinhalb Stunden habe ich es geschafft. Ich bin auf der Bergkuppe angekommen. Im grauen Schein der Vorboten des beginnenden Tages erkenne ich die Umrisse der unzähligen aufgetürmten Steinhaufen, den steinernen Männern, von denen dieser Ort seinen Namen hat. Es ist die größte Ansammlung dieser Steingebilde im gesamten Alpenraum. 






Der Himmel wird heller, sanfte leichte Wolken werden sichtbar. Die Wolken beginnen im Schein der aufgehenden Sonne in den schönsten Farben zu leuchten. Farben und Formen ändern sich ständig. Es ist ein atemberaubendes Naturschauspiel. Zwischen zwei Berggipfeln am Horizont wird ein oranger Punkt sichtbar, klein zu Beginn, unauffällig. Schnell wird er größer und heller. Die ersten Sonnenstrahlen breiten sich übers Land aus.


Als die Sonne über den Bergen steht trete ich den Rückweg an. Müde, hungrig, aber glücklich dieses kleine Wunder der Natur miterlebt haben zu dürfen.


Werner Stanger

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